Orkendorf
"... hatte ich mir Havena immer als eine blühende Stadt vorgestellt, so wurde ich gleich nach meiner Ankunft im Hafen tief enttäuscht. Ein Kamerad begleitete mich noch ein Stück und führte mich in die wohl schmutzigsten Gassen, die ich je betreten habe. Nirgendwo sonst sah ich solches Elend und solche Armseligkeit. Ein jeder kippt hier seinen Unrat gleich vor die Tür, so daß einem der üble Geruch sogleich in Nase und Kleider dringt. Die Menschen gehen in Lumpen ,gekleidet und sehen allesamt wie Bettler aus, den Blick gesenkt und voll Hoffnungslosigkeit. Hier ist ein fortgeworfener, verschimmelter Brotkanten eine Kostbarkeit, um den sich Hunde, Katzen und von Schmutz starrende Kinder raufen. Am hellen Tag huschen freche Ratten über den Boden - niemand macht sich die Mühe, ihnen mit dem Knüppel zu Leibe zu rücken.Und was das für Häuser sind, in denen die Leute hier leben.' Seit Jahrhunderten scheint niemand mehr eine Hand zum Erhalt dieser "Bauwerke" gerührt zu haben! Wie betrunkene Orks stehen sie schief aneinandergelehnt, Balken stützen quer über die Gasse hinweg einen Giebel am anderen ab. Überall liegen herabgefallene Trümmer umher, eingestürzte Wände werden durch Verschläge aus alten Schiffsblanken ersetzt. An diesen Bretterbuden, in die man in meiner Heimat keine Schafe zum Überwintern treiben würde, prangen dann bunte Schilder, die das Haus als Schenke ("Keisa Bahdo") oder Bordell ('Wadschas Wolgefalen") zu erkennen geben. Aufdringliche Bettler versuchen ständig, ein paar Kreuzer zu erhaschen, mit denen sie sofort in die nächste Taverne wanken, um sie zu vertrinken.
Drinnen werden sie von einer johlenden Menge empfangen, die wohl den ganzen Tag nichts besseres zu tun hatte, als das wässrige Bier der betrügerischen Wirte zu saufen.
Je weiter ich in die Stadt vordrang, desto verwirrender wurden die Gassen. Bald wußte ich nicht mehr, wo ich war. Ansprechen wollte ich niemanden, denn irgendwie hatte ich das Gefühl, daß ich von allen gierig angegafft wurde. Schließlich gab ich mir einen Ruck und suchte eine der sogenannten Tavernen auf.
Die Wirtin machte einen überraschend anständigen Eindruck, auch wenn sie - ebenso wie ihre Garderobe - lange nicht mehr mit Efferds Element in Berührung gekommen war. Ich aß schnell eine heiße Suppe, in der sogar einige Fleischbrocken schwammen. Plötzlich entbrannte in einer Ecke scheinbar grundlos eine wilde Schlägerei. Ich rannte hinter die Theke und suchte Schutz, wartete auf die Garde, aber die kam nicht..."
(Aus dem Brief eines Reisenden, 3 Hal)Der Reisende hatte ganz gewiß Pech, denn er betrat gleich nach seiner Ankunft in Havena das Orkendorf. Hier "wohnt" das lichtscheue Gesindel, jene Gesellen, die davon leben, anderen Leuten den Geldbeutel abzunehmen. Das Orkendorf ist das Viertel der schlechten Kneipen, der billigen Hotels und der schäbigen Bordelle. Bettler und Arme bevölkern die Straßen neben Hunden, Katzen und Ratten. Wenn man sich nicht vorsieht, bekommt man eine Schüssel dreckiges Wasser auf den Kopf geschüttet oder tritt in die menschlichen Ausscheidungen, die sich am Straßenrand sammeln. Nur der Regen reinigt die Straßen ab und an einmal, dann fließen braune Bäche durch die Gassen und hinab zum Hafen. Die Gebäude des Orkendorfes stammen noch aus der Zeit vor dem Beben. Einige von ihnen sind stark einsturzgefährdet, andere notdürftig abgestützt. Sie sind alt und eng, manchmal drei oder gar vier Stockwerke hoch. Die Straßenrinnen erinnern noch an ein funktionierendes Abwassersystem, und vielerorts führen noch Abstiege in eine längst verkommene Kanalisation, die heute entweder eingestürzt ist oder von Ratten bevölkert wird. Die Bewohner dieses Stadtviertels scheinen das alles gleichgültig hinzunehmen. Viele von ihnen gehen keiner Arbeit nach und müssen sich ihr Geld erbetteln oder erstehlen. Nirgendwo in Havena gibt es mehr Kranke als im Orkendorf, und nirgendwo trifft man gefährlichere Leute als dort.
Auch wenn die meisten der verschlagenen Orkendörfler erst mit Anbruch der Nacht ihre Schlupfwinkel verlassen, gefährlich ist es hier zu jeder Tageszeit. Wer nicht achtgibt, der findet sich plötzlich niedergestochen und ausgeplündert im Rinnstein wieder. Flehende Rufe nach Hilfe bleiben ohne Wirkung, denn niemand will etwas mit einer solchen Sache zu tun haben. Havener Gardisten in ihren stolzen Uniformen verirren sich kaum einmal in diese Gegend. Wenn der Niedergestochene ein wirklicher Pechvogel ist, nehmen ihm höchstens noch die mittellosen Bettler die Kleidung weg.
"lm Orkendorf hört niemand deine Schreie, niemand wird dir helfen, niemand nach dir sehen. Es ist besser, du betrittst es nur mit gezogener Klinge, oder - besser noch -,gar nicht. "
(Ausspruch von Valtoron, ehem. Leiter der Kriegerschule, vor dem jeweils neusten Jahrgang.) Natürlich gibt es auch in einem so verrufener Stadtteil wie dem Orkendorf nicht nur finstere Gassen und es leben dort nicht nur Halsabschneider und Berufsdiebe. So mancher Handwerker hat sich im Orkendorf niedergelassen, so auch Krämer, Bäcker und Fleischer. Sogar die Havena-Fanfare und die Zimmermanns-Zunft haben ihren Sitz in diesem Teil der Stadt. Doch all diese Gewerbe haben sich mit den wahren Herren des Orkendorfes arrangieren müssen. Ein jeder ehrbare Bewohner, der einigermaßen in Frieden leben will, zahlt Schutzgelder an eine der Banden, die das Dorf unter sich aufgeteilt haben. Dieser Schutz währt so lange, wie die jeweilige Bande stark genug ist, ihre Konkurrenten im Zaum zu halten. Falls eine Bande in einem der recht zahlreichen und meist blutigen 'Kriege' den kürzeren zieht, übernimmt der Sieger die Einnahmequellen und Schutzverpflichtungen des Verlierers.Für den Außenstehenden mag es verwunderlich sein, daß gerade die Fürstenallee durch dieses finstere Viertel führt. Dazu muß man ganz einfach wissen, daß die Straße erst etwa 150 Jahre alt ist. Damals beschloß der Ältestenrat, die Fürstenallee zum Hafen zu verlängern, da die schmalen Gassen die vielen Karren und Fuhrwerke nicht mehr zu fassen vermochten. Zahlreiche Häuser wurden dafür dem Erdboden gleichgemacht, und neue Gebäude entstanden sogleich am Rand der neuen Prachtstraße. Doch die Wirklichkeit holte diesen vorbildlichen Plan bald ein. Die Bewohner des Orkendorfes eroberten die Allee für sich, und heute sind die meisten der prächtigen Villen von den führenden Gestalten der Orkendorfer Unterwelt bewohnt.
"Endlich wird es wieder Abend - Feierabend. Nun will ich mich sputen, mein Heim zu erreichen, denn wer weiß schon, wer mir in der Dunkelheit der Gassen auflauert."
(Gero H. Bolerus, Chefredakteur der Fanfare)