Oberfluren
"Oberfluren, was weißt du über Oberfluren?" - "Ich habe dort einen Onkel, der es für den schönsten Stadtteil Havenas hält." -"Pah, Oberfluren kannst du völlig vergessen. Da lungern nur blöde Adlige und andere Lackaffen 'rum; mit uns, den eigentlichen, echten Havenern wollen die gar nichts zu tun haben. Soll ich dir 'was sagen, in Oberfluren gibt es noch nicht einmal Wasser. Man stelle sich das vor: Havena, die Stadt am Großen Fluß, deren feinster Stadtteil weit weg vom Fluß liegt. Ich wette mein Holzbein, daß in Oberfluren viele leben, die den Fluß noch nie gesehen haben. Und wie es da riecht: nichts als Rosenwasser und Lavendel. Wenn du zu viel davon einatmest, mußt du dich übergeben - das sage ich dir! " -"Der Fürstenpalast soll doch auch... " - "Der Fürst ist in Ordnung, das kannst du mir glauben. Aber der würde sicherlich auch lieber am Fluß oder am Hafen leben, als in diesem komischen Oberfluren. Dort ist er doch nur von Speichelleckern und Landratten umgeben." - "Und die vielen Tempel, großartigen Stätten der - wie sagt man - Kunst und Kultur?" - "Tempel ... ? Ihren komischen Praiostempel mit der großen Uhr können sie ruhig behalten. Einzig der Traviatempel ist ganz brauchbar. Was hast du noch gesagt? ... Kultur.' Daß ich nicht lache, die einzige Kultur, die ich brauche, ist ein Badezuber alle vier Wochen und eine vernünftige Kneipe. Ach ja, das Immanstadion ist auch in Oberfluren. Die haben doch den Schlachtplatz unserer großen Bullen nur nach Oberfluren gelegt, damit überhaupt noch ein anständiger Havener dieses Klein-Gareth betritt." - "Aber..." - "Kein aber, jetzt laber mich nicht voll und bestell noch 'ne Runde."
(Gespräch in der Kusliker Taverne "Kieloben" zwischen zwei Matrosen) Oberfluren nimmt in Havena eine Ausnahmestellung ein. Hier wohnen Adlige und reiche Kaufleute, die sich um den Fürstenpalast angesiedelt haben und sich dem höfischen Leben in Gareth näher fühlen als dem Hafen.Die Straßen des Prachtviertels sind so sauber, als kämen sie nie mit Dreck in Berührung. Alle paar Tage werden die Pflastersteine gefegt und aller Unrat fortgeschafft (und in den Hafen gekippt). Die schweren Stiefel der patrouillierenden Gardisten und des Nachtwächters, der bei einbrechender Dunkelheit mit der Laterne seine Runde geht, hallen durch fast verlassene Straßen. Nur hier und da ist ein Haus hell erleuchtet, Kaleschen rollen heran, Musik weht aus den hohen Fenstern - ein reicher Havener hat zu einem der zahlreichen Bälle geladen.
Ansonsten herrscht Stille in diesem Teil der Stadt. Wenn Praios der Finsternis des Phex weicht, verschwinden auch die Bewohner Oberflurens in ihren großen Häusern, von denen ein jedes prachtvoll anzuschauen ist: Verspielte Verzierungen, geschwungene Bögen und große Fenster bestimmen die Fassaden. Die meisten Villen sind von großen, gepflegten Gärten umgeben. Auch das Innere dieser Gebäude ist von großzügigem Luxus geprägt. Mögen die Häuser in den anderen Vierteln reine Wohn- und Schlafstätten sein, so dienen sie hier als Statussymbole, die den gesellschaftlichen Rang des Bewohners eindrucksvoll darstellen. Den Kampf ums tägliche Überleben kennt man in dieser Gegend nicht, vielmehr sorgt man sich um den gesellschaftlichen Aufstieg, gibt Empfänge, kleidet sich nach neuester Garether Mode und versucht fortwährend, seine Nachbarn auszustechen.
Das Zentrum Oberflurens bildet der Fürstenpalast. Nach dem Großen Beben 291 v.H. wurde dieser Stadtteil um die neu errichtete Residenz aufgebaut. Die Familien der Reichen und Adligen siedelten sich um den Palast ihres Herrschers an, um sich in seinem Glanz zu sonnen. Auch heute hat sich daran nur wenig geändert. Die Bewohner Oberflurens - so geringschätzig sie auch auf die anderen Havener herabblicken mögen - sind ebenso wie ihre ärmeren Mitbürger loyale Anhänger von Fürst Bennain und treue Albemier. Zwar ahmt man auch hier, wie in vielen Städten des Mittelreiches, das Leben am kaiserlichen Hof zu Gareth nach, doch niemand würde dies offen zugeben, denn in jedem Havener schlägt ein Herz voller Landesstolz, ein Herz für Albernia.
Neben vielen betuchten Händlern und exzellenten Handwerkern sind etliche städtische Einrichtungen in Oberfluren ansässig. Der Stadtpark und das Immanstadion, in dem die Havena-Bullen spielen, sind hier ebenso zu finden wie die Garnison oder das Stadthaus, in dem die Schreiber ihren Dienst tun und der Ältestenrat tagt.
Für den Besucher bietet Oberfluren Einiges. Die Hotels und Gasthäuser sind von großbürgerlichem Zuschnitt und erfreuen sich trotz hoher Preise eines großen Zuspruchs. Wer hier Speise, Trank oder andere Waren erstehen will, der sollte schon einen prall gefüllten Geldbeutel haben, doch über Mangel an Gästen kann sich niemand beklagen, auch nicht das Wachsfigurenkabinett oder der Tempel des Götterfürsten Praios.
Kein Stadtteil Havenas steht so unter der Obhut der Stadtgarde wie Oberfluren. Die hiesigen Bewohner sind streng darauf bedacht, Gelichter von ihren Prachthäusern fernzuhalten. Die Garde nimmt jedermann fest, der ihren Verdacht erregt, und Bettler werden regelmäßig verscheucht.
Obwohl Oberfluren nur ein Stadtteil von zehn ist, hat es mehr Macht als alle anderen zusammen. Während der Fürst noch auf die Belange aller Havener achtet, dienen die Entscheidungen des Ältestenrates, dessen Mitglieder zum Großteil aus Ober- und Unterfluren stammen, eher dem eigenen Geldbeutel als dem Wohl aller Bürger. Nur wenige Mitglieder dieser Kammer widerstehen der Versuchung, sich durch entsprechende Beschlüsse Einfluß und Geld zu sichern. Ein gutes Beispiel dafür war der Bau des Immanstadions vor knapp 60 Jahren. Statt das Stadion auf der Feldmark anzusiedeln, wo ausreichend Platz vorhanden gewesen wäre, wählte man ein Gelände, das an den Stadtpark grenzte und für die Bürger Oberflurens leicht zu erreichen war. Die dort stehenden Häuser vieler Bewohner Orkendorfs wurden einfach abgerissen.
Es kann also niemanden verwundern, daß die Oberflurener von den meisten Havenern beschimpft werden, wobei natürlich auch ein gehöriges Maß an Neid und Mißgunst im Spiel ist. Jeder würde gerne in Oberfluren leben, auch wenn man diesen Stadtteil abfällig "Klein-Gareth" nennt.